Der Betriebsrat im Zuge der agilen Transformation

Gastbeitrag von | 03.04.2023

Vor kurzem hatte ich auf einer Konferenz mit mehreren agilen Coaches ein interessantes Gespräch über das Gremium der betrieblichen Mitbestimmung in Unternehmen, den Betriebsrat. Die Kollegen ärgerten sich darüber, wie misstrauisch der Betriebsrat der agilen Transformation begegnete. Ein Coach fragte sogar: „Kann man den Betriebsrat nicht auch wieder abwählen?“ Er war der Auffassung, dass die agile Transformation vom Betriebsrat vorgeschlagen und nicht boykottiert werden müsste.

Da ich selbst einige Jahre Betriebsrätin und auch Betriebsratsvorsitzende war, traf mich diese Haltung doch mehr als ich erwartet hatte. Zugegebenermaßen kenne ich sowohl Betriebsräte (BR) als auch Arbeitgeber:innen (AG), die streiten um des Streitens willen, die kein Interesse an Kooperation haben, oder bei denen Mitarbeitende in Generalverdacht stehen, Arbeitgeber:innen ständig auszunutzen.

Hier lohnt sich ein genauerer Blick lauf das Zusammenwirken beider Seiten, um die Chancen der agilen Transformation zu erkennen und zu nutzen.

Die Folgen mangelnder Kooperation zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber:in

Es gibt viele Unternehmen, da läuft das Zusammenspiel zwischen BR und AG sehr gut oder zumindest gut. Und es gibt sicherlich zahlreiche Unternehmen, da ließe sich die Zusammenarbeit – allgemein und auch im Zuge der agilen Transformation – nachhaltig verbessern.

Ich kenne bspw. ein Unternehmen, in dem der Betriebsrat einen zweistündigen Vortrag zur agilen Transformation buchen wollte, um sich über das Thema und mögliche Chancen und Risiken zu informieren. Dieser Vortragswunsch wurde von der Arbeitgeberin abgelehnt. Begründung: Das sei nichts für den Betriebsrat und das Gremium bräuchte das nicht!

Eine solche Entscheidung bzw. Begründung macht etwas mit dem Verhältnis der Parteien. Wenig überraschend verliert der BR den Glauben an den guten Willen der AG. Das führt fast zwangsläufig zu vermehrten Streitigkeiten und zur Anwendung aller möglichen und unmöglichen Paragrafen aus dem Betriebsverfassungsgesetz. Hier eine kleine Auswahl an Beispielen:

  • § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG – Leistungs- und Verhaltenskontrolle
    Werden Tools wie JIRA in der Umsetzung der agilen Transformation eingesetzt, um Arbeitsfortschritt zu dokumentieren, Boards einzurichten, usw. ist der BR mit einzubeziehen, da diese Tools zur Verhaltens- und Leistungskontrolle geeignet sind.
  • § 87 Abs. 1 Nr. 13 BetrVG – Gruppenarbeit
    Selbstorganisierte Teams mit End-To-End Verantwortung erfüllen ggf. die Voraussetzungen dieses Paragrafen, sodass der Betriebsrat ebenfalls zwingend einzubeziehen ist.
  • §111 BetrVG – Betriebsänderung
    Wird die ganze Organisation transformiert, liegt möglicherweise eine Betriebsänderung vor. Diese gilt es zu überprüfen und ggf. neu zu verhandeln.

Ich weiß aus meiner Vergangenheit, dass diese und zahlreiche weitere Paragrafen von Betriebsräten NICHT gezogen werden, wenn Informationen frühzeitig und umfänglich zur Verfügung stehen. Kommunikation ist und bleibt eine wichtige Zutat für eine gute Zusammenarbeit. Eine weitere Zutat lautet häufig: Werte.

Werte für die Weiterentwicklung der Zusammenarbeit

Es zeigt sich immer wieder, wie wichtig Werte für eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen BR und AG sind. Denke ich an Werte, kommt mir Spiral Dynamics¹ in den Sinn. Fühlen sich Betriebsräte auf der blauen Bewusstseinsebene heimisch, dann bedeutet für sie Mut etwas anderes als für Menschen, die sich auf der orangenen Bewusstseinsebene sehr wohlfühlen. Für blau (Sicherheit und Planbarkeit, Ordnung und Hierarchie) ist es mutig, die Regeln infrage zu stellen; für die orangene Bewusstseinsebene ist dies hingegen völlig normal, es wird immer der beste Weg gesucht und dabei auch alles bisher Definierte infrage gestellt.

Werfen wir einen Blick auf agile Werte und wie diese im Zuge der Mitbestimmung ausgelegt werden könnten:

  • Selbstverpflichtung: Bereitschaft, sich einem gemeinsamen Ziel zu verpflichten, wie es auch aus § 2 BetrVG (Vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen AG und BR zum Wohl von Beschäftigten und Unternehmen) gefolgert werden kann.
  • Feedback: Feedbackkultur in der Mitbestimmung etablieren, z.B. durch Retrospektiven unter Beteiligung des BR und der AG oder auch Reviews von Betriebsversammlungen mit den betroffenen Mitarbeitenden.
  • Fokus: Orientierung durch das Commitment und die Konzentration auf die Zielerreichung, ernsthafter Versuch sich zu einigen und auf Augenhöhe zu verhandeln im Sinne der Selbstverpflichtung.
  • Kommunikation: Alle Beteiligten kommunizieren offen und konstruktiv miteinander. Dies klingt leicht, ist aber einer der schwierigsten Punkte in der Praxis.
  • Mut: Psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz, die häufig mit einer konstruktiven Fehlerkultur einhergeht. Es gilt, andere Meinungen zu hören und zu akzeptieren, und sie nicht per se zu verurteilen oder wegzuwischen.
  • Respekt: Vielfältigkeit und Individualität wertschätzen und diese Wertschätzung auch leben und in geeignetem Maß bei notwendigen Vereinbarungen berücksichtigen.
  • Einfachheit: Komplexität vermeiden und bspw. Vereinbarungen nicht unnötig verkomplizieren.
  • Offenheit: Schaffen eines Raumes, in dem Ehrlichkeit, Nachsicht und Sicherheit den Mut fördern, frühzeitig Informationen miteinander zu teilen.

Der Weg zu gemeinsamen Beschreibungen und Interpretationen dieser Werte wird viele Unklarheiten zwischen AG und BR klären. Vielleicht entstehen auch neue Konflikte, die es dann idealerweise umgehend zu besprechen und zu klären gilt. Und somit passt auch im Kontext der Arbeit mit Werten die Erkenntnis: Miteinander zu kommunizieren ist wichtig.

Die angepasste Anwendung des Agilen Manifests für die Arbeit mit dem Betriebsrat

Neben der frühzeitigen Informationsbereitstellung und der Klärung von Werten der Zusammenarbeit gibt es noch einen weiteren Ansatz, den Betriebsrat im Zuge einer agilen Transformation aktiv einzubeziehen und agile Aspekte auch in der Mitbestimmung umzusetzen.

Unternehmen könnten das agile Manifest für die Arbeit des Betriebsrats und die Zusammenarbeit zwischen BR und AG umschreiben. Praktisch ein agiles Mitbestimmungsmanifest:

  • „Individuen und Interaktionen sind wichtiger als Prozesse und Werkzeuge“ könnte zu „Bedürfnisse der Mitarbeitenden sind wichtiger als Regularien“ oder „Vertrauen ist wichtiger als Betriebsvereinbarungen“ werden. Schön wäre auch „Individuelle Entfaltung ist wichtiger als Einschränkungen durch Bürokratie“.
  • „Funktionierende Software ist wichtiger als umfassende Dokumentation“ könnte zu „Menschenzentrierte Zusammenarbeit ist wichtiger als rechtlich perfekte Regelungen“ oder „Gesunder Menschenverstand ist wichtiger als detaillierte, lückenlose Regelungen“ werden. Vielleicht ginge auch „Zufriedene Mitarbeitende sind wichtiger als maximaler Gewinn“?
  • „Zusammenarbeit mit dem Kunden ist wichtiger als die Vertragsverhandlung“ könnte zu „Beteiligung der Mitarbeitenden ist wichtiger als Verhandeln hinter verschlossener Tür“ oder „Interessen der Mitarbeitenden sind wichtiger als höherer Bonus“ werden. Möglicherweise ginge auch „Gemeinsame Vision ist wichtiger als Erfüllen von vorgegebenen Unternehmenszielen.“
  • Und „Reagieren auf Veränderung ist wichtiger als das Befolgen eines Plans“ könnte zu „Zukunftsfähige Voraussicht ist wichtiger als Festhalten an der Vergangenheit“ oder zu „Veränderungskompetenz ist wichtiger als Stabilisierungsaktivitäten“ werden. „Weitsicht ist wichtiger als Vorsicht“ mag ich persönlich auch.

Ich glaube, der Austausch über ein agiles Mitbestimmungsmanifest kann als Ergänzung zur Klärung der agilen Werte große Aha-Momente auslösen. Probieren Sie es bei Gelegenheit gerne einmal aus.

Weitere konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Mitbestimmung

Es gibt weitere Möglichkeiten, agile Ansätze auch in der Mitbestimmung zu leben. Der erste und wichtigste Schritt muss sein, sowohl die Betriebsräte als auch die Unternehmensleitung in Agilität zu schulen. Ich beobachte häufig, dass es nicht zur auf der Seite der Betriebsräte gravierende Defizite im Verständnis gibt, auch die Seite der Unternehmensleitung unterliegt manchem Irrtum. Beiden Parteien muss klar sein, worum es wirklich geht. Dazu gehört auch, offen darüber zu sprechen, was Agilität im konkreten Fall für alle Beteiligten bedeutet.

Ist das geklärt, gibt es ganz verrückte Ideen, wie man Betriebsratsarbeit agiler gestalten kann:

  • Umfragen zu den anstehenden Themen in der Belegschaft,
  • Reviews der Betriebsvereinbarungsentwürfe durch die davon Betroffenen,
  • Transformationszirkel mit AG und BR,
  • BR als Stakeholder für die Transformation gewinnen,
  • BR-Board mit Backlog aus der Belegschaft oder
  • Retrospektiven mit BR und AG.

Durch solche und ähnliche Ideen lassen sich viele tolle Entwicklungen anregen und fördern. Selbstverständlich spielen die handelnden Personen eine wichtige Rolle bei entsprechenden Entwicklungen. Ist mein Gravitationsschwerpunkt bspw. eher auf der Ebene Macht zu finden, möchte ich mir die Entscheidungshoheit vielleicht gar nicht nehmen lassen. Fühle ich mich in einem sehr geregelten, prozessorientierten und hierarchischem Umfeld wohl, empfinde ich das bloße Vertrauen auf den gesunden Menschenverstand möglicherweise als äußerst riskant. Die ausgewählten agilen Ansätze und Maßnahmen müssen daher zwingend zur Entwicklungsebene der Organisation UND den Menschen darin passen.

Fazit

Ich war sehr gerne Betriebsrätin und habe sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Von Blockadehaltung bei der Arbeitgeberin bis hin zu der Haltung „Der BR ist auch verantwortlich für das Unternehmen“ ist mir fast alles schon begegnet. Ich glaube fest daran, dass Betriebsräte die Chancen einer agilen Transformation erkennen können, sofern man ihnen die Gelegenheit gibt, die damit verbundenen Hintergründe, Zusammenhänge und Herausforderungen zu verstehen. Das setzt frühzeitige und umfängliche Information voraus. Darüber hinaus können die gemeinsame Beschäftigung mit Werten und ggf. die Entwicklung eines Mitbestimmungsmanifests die Zusammenarbeit zwischen AG und BR weiter verbessern.

Wenn Arbeitgeber:innen ihre Mitarbeitenden wertschätzend, fair und anständig behandeln, und Betriebsräte nicht aus Frust in die Konfrontation gehen und auch die Perspektive der Arbeitgeber:in in Betracht ziehen, dann verbessert sich die Zusammenarbeit meist sehr schnell. Interessanterweise braucht es dafür nicht einmal eine agile Transformation.

 

Hinweise:

[1] Don Edward Beck, Christopher C. Cowan: Spiral Dynamics – Leadership, Werte und Wandel

Wenn Sie sich für weitere Fachartikel aus den Bereichen KI, agile Methoden, Testautomatisierung und Business Process Management interessieren, dann schauen Sie gerne im Blog der viadee Unternehmensberatung AG vorbei. Es lohnt sich! Und wenn Ihnen dieser Beitrag gefällt, teilen Sie ihn gerne in Ihrem Netzwerk.

Claudia Simsek-Graf hat im t2informatik Blog einen weiteren Beitrag veröffentlicht:

t2informatik Blog: Die Arbeit mit agilen Werten

Die Arbeit mit agilen Werten

Claudia Simsek-Graf
Claudia Simsek-Graf

Claudia Simsek-Graf hat Technische Informatik studiert und arbeitet seit mehr als 25 Jahren in IT-Projekten. Durch ihre früheren Aufgaben als Team- und Abteilungsleiterin kennt Sie die Herausforderung im Umgang mit menschlichen Faktoren und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen aus eigener Erfahrung. Als Wirtschaftsmediatorin und Organisationsentwicklerin ist es ihre große Leidenschaft, die Entwicklung von Menschen und Teams zu begleiten.