Wie arbeitet ein radikal selbstorganisiertes Team?
Vermutlich ist Ihnen der Begriff “Selbstorganisation” im agilen Universum bereits mehrfach begegnet. Obwohl das Wort auf den ersten Blick selbsterklärend wirkt, gibt es in der gelebten Praxis verschiedene Ansätze, Sichtweisen und Definitionen, sodass die wahre Bedeutung im Alltag für viele Personen unklar bleibt.
Um Ihnen einen Einblick in die Möglichkeiten und Grenzen von Selbstorganisation zu geben, möchte ich in diesem Beitrag etwas über den Alltag in einem radikal selbstorganisierten Team berichten, nämlich unserem eigenen.
Selbstorganisation als bewusst gewählte Arbeitsform
2018 wurde unsere Firma Chili & Change mit dem Fokus auf Organisationsentwicklung und Führung in dynamischen Kontexten gegründet. Die beiden Firmengründer, die rechtlich als Geschäftsführer fungieren, hatten von Anbeginn eine selbstorganisierte Unternehmung vor Augen, in der Führung von allen Mitarbeiter:innen wahrgenommen werden kann. Bereits in ihrer vorherigen Firma mit 20 gleichberechtigten Gründer:innen hatten die zwei gute Erfahrungen mit Selbstorganisation als Arbeitsform gemacht. Selbstorganisation bei Chili & Change bedeutet, dass
- Führungsaufgaben und
- Verantwortung,
die klassisch bei der Führungskraft liegen, im Team aufgeteilt werden. Als Teammitglieder bestimmen wir, welche Aufgaben wir übernehmen, welche Kundenprojekte wir durchführen, welche Leute wir einstellen, wann wir Budgets ausgeben und wie wir unsere Arbeitszeit oder unseren Urlaub verwalten.
Selbstorganisation mit Strukturen und Rollen
Wir leben Selbstorganisation so, dass Führungsaufgaben im Team aufgeteilt werden, anstatt sie beispielsweise an eine Person oder Position zu knüpfen. Doch damit wir nicht im Chaos der Selbstüberlassung versinken, gibt es auch bei uns
- Strukturen,
- Prozesse,
- Rollen und
- Regeln.
Bei der Einführung von Strukturen, Prozessen oder Regeln orientieren uns an dem Prinzip “sicher genug, um es auszuprobieren”. Wichtig ist, dass die Strukturen, Prozesse oder Regeln dem Team dienen, Wertschöpfung erleichtern und im Einklang mit unseren Grundsätzen stehen. Wir gehen immer schrittweise vor und starten mit einer Bestandsaufnahme. Basierend auf konkreten Veränderungsbedarfen führen wir Anpassungen durch, die wir anschließend über mehrere Monate verproben, überprüfen, ggf. anpassen oder sogar verwerfen. So stellen wir sicher, dass Selbstorganisation nicht zum Selbstzweck wird.
Für unser Rollenmodell sind zwei Punkte wesentlich:
- Eine Rolle hat immer einen bestimmten Zweck, einen Raison d’être. Aus dem Zweck ergeben sich Verantwortungsbereiche und Aufgaben.
- Hat eine Person eine Rolle inne, heißt dies nicht zwangsläufig, dass sie die Aufgaben allein erledigen muss, sie ist aber verantworlich für die Ausführung.
Eine Rolle hat bspw. die Aufgabe, die Teamentwicklung im Blick zu behalten. Übernimmt eine Person diese Rolle, dann erfragt sie z. B. Weiterentwicklungswünsche und -bedarfe, und organisiert ggf. Lernsessions oder Weiterbildungen für das Team oder einzelne Mitglieder.
Eine andere Rolle koordiniert den Zahlungsverkehr, kommuniziert mit der Buchhaltung und schafft den Raum, um gemeinsam im Team das Gehalts- und Bonusmodell weiterzuentwickeln. Im Sinne der gemeinschaftlichen Verantwortung werden bei uns all am finanziellen Erfolg der Firma beteiligt und auf individuellen Boni verzichtet.
Grundsätzlich ist unser Rollenmodell sehr flexibel. Es verhindert, dass sich Flaschenhälse in größeren Projekten oder bei längeren Abwesenheiten wie bspw. einer Elternzeit bilden. In so einem Fall kann eine Rolle an andere Personen übertragen werden und es gibt keine Probleme mit Zuständigkeiten oder brachliegenden Aufgaben. Dies ist bei den komplexen Herausforderungen, in denen wir unsere Kund:innen begleiten, besonders wichtig.
Der Shared Leadership Compass
Um Führungskräfte, Berater:innen, Coaches und Teams dabei zu unterstützen, das richtige Maß an Selbstorganisation für ihren Kontext zu finden, haben wir den Shared Leadership Compass¹ entwickelt.
- Persönlichkeits- und Teamentwicklung,
- Personalverantwortung,
- Arbeitsorganisation,
- Operative Tätigkeiten,
- Repräsentation nach Außen und
- Strategie.
Unterteilt sind diese Führungsfunktionen in 21 Aufgaben wie bspw. Kompetenzentwicklung, Konfliktkommunikation, Gesundheit, disziplinarische Entscheidungen, Leistungsbeurteilung, Arbeit am System, fachliche Ziele, fachliche Entscheidungen, inhaltliche Präsentation der Arbeit, Netzwerkaufbau oder strategische Entscheidungen.
Diese Führungsaufgaben lassen sich “erledigen”, in dem sie von jemandem im Rahmen einer festgelegten Rolle frei verantwortet werden. Das bedeutet im Kern, ein:e Rolleninhaber:in definiert gemeinsam mit dem Team Strukturen, managt Prozesse, führt Regeln ein und stellt sicher, dass die anfallenden Aufgaben erledigt werden. So führen wir uns gegenseitig in verschiedenen Kontexten, zumal Entscheidungen nicht abhängig von Personen sind, nicht einmal von den beiden Unternehmensgründern.
Möglichkeiten und Grenzen unserer Selbstorganisation
Der Shared Leadership Compass bietet eine Grundlage, um strukturiert die Selbstorganisation innerhalb einzelner Bereiche zu erhöhen. Er erleichtert die Bestandsaufnahme und den Dialog darüber, welche Aufgaben wie verteilt werden können. Interessanterweise übernehmen die meisten Teams heute schon Teile der Aufgaben, die im Compass festgehalten sind, ohne sich dessen auch immer bewusst zu sein.
Durch die schrittweise Einführung, iterative Anpassung und Ausweitung, entwickelt sich Grad der Selbstorganisation im Kontext der Teams. Organisch. Ohne Change Fatigue, bei der zu viele, parallele Veränderungen ein Team überfordern. Die Praxis zeigt, dass es hilfreich ist, regelmäßig zurückzuschauen, Erfolge und Misserfolge gleichermaßen als Learnings zu feiern. Das hält die Motivation hoch, führt zu einer kontinuierlichen Weiterentwicklung der eigenen Arbeitsorganisation und stärkt die Selbstreflexion – entscheidende Zutaten auf dem Weg zu mehr Selbstorganisation.
Mit Sicherheit ist diese Form der Selbstorganisation nicht für alle Organisationen und Teams geeignet. Reine Selbstorganisation funktioniert vor allem in komplexen Umfeldern und weniger in komplizierten Kontexten. Wenn also (siehe dazu auch das Cynefin-Modell²) Ursache und Wirkung in einem planbaren Zusammenhang stehen und die Umgebung damit eher kompliziert als komplex ist, sind andere Arbeitsorganisationsformen, wie sie in klassischen Organisationen zu finden sind, eventuell die bessere Wahl. Dennoch nimmt durch zunehmende Globalisierung, Digitalisierung und aktuelle Krisen der Grad der Komplexität eher zu als ab.
Darüber hinaus ergibt es Sinn, auch im eigenen Team genau zu prüfen, wie mehr Selbstorganisation dem Team zu besserer Wertschöpfung verhelfen kann. Ob beispielsweise mehr Verantwortung im Team aufgeteilt und so Prozesse verschlankt und Engpässe reduziert werden. Oder Aufgaben eigenständig organisiert und verteilt werden können, um mehr Spielraum für das Eingehen auf Kundenbedürfnisse zu haben.
Ausblick
Wir werden den Weg in der und zur Selbstorganisation stetig weitergehen. Wir wollen ausgediente Muster hinter uns lassen, um die wertschöpfende und zufriedenstellende Zusammenarbeit in unseren Teams weiter auszubauhen. Wir freuen uns darauf, in den kommenden Monaten neue Kolleg:innen im Team willkommen zu heißen und sind gespannt, wie sich die Strukturen in der neuen Konstellation bewähren.
Gerne möchte ich Sie ermutigen, selbst einmal genau hinzuschauen, ob nicht auch hier und da eine mehr oder weniger radikale Prise Selbstorganisation der Wertschöpfung und Zufriedenheit Ihrem Team oder Ihrer Organisation gut tun könnte. Es könnte sich lohnen…
Hinweise:
[1] Der Shared Leadership Compass ist unter einer CC-BY-ND 4.0 Lizenz veröffentlicht und darf kostenfrei, unter vollständiger Quellenangabe, zu beliebigen Zwecken (auch kommerziell) verwendet, aber nicht verändert oder weiter bearbeitet werden. Weitere Informationen finden Sie unter https://chili-and-change.de/shared-leadership-compass//.
[2] Cynefin-Framework
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Leonie Heiß hat einen weiteren Beitrag im t2informatik Blog veröffentlicht:
Leonie Heiß
Leonie Heiß ist Senior Agile Coach bei Chili & Change und begleitet Teams und Organisationen in Veränderungsprozessen von der Teambildung bis zur Strategiefindung.
Ihre zentralen Themen sind dabei Selbstorganisation, Digitalisierung und Innovation mit einem Fokus auf die nachhaltige Veränderung der Zusammenarbeitsstrukturen aus der systemischen Perspektive.
Die Bandbreite ihrer Methoden reicht von Design Thinking bis Corporate Foresight und der Einsatz erfolgt pragmatisch und nach dem Motto “alle Modelle sind falsch, manche sind hilfreich”.