Weg mit den Budgets!
Die agile Antwort für den Finanzbereich wird gerne als “lean budgeting” bezeichnet. Die Ansätze sind abgeleitet aus der Extrapolation agiler Methoden von Projektebene auf die Gesamtorganisation durch Budgetierung von Epics auf Portfolioebene oder von Value Streams. Damit erscheint die Umsetzung agilen Denkens im Finanzkontext als ein im methodischen Framework gestützter, natürlicher Effekt agiler Skalierung.
Ich habe so etwas in der Praxis noch nie gesehen. Ich glaube auch nicht an die blaupausenartige Übertragung von Methoden auf neue Systeme, um Transformation herbeizuführen. Insbesondere im Finanzbereich fehlt häufig eine maßgebliche Gelingensbedingung für Veränderung: das Störgefühl, das etwas falsch läuft.
Es bleibt aus, da sich diese Abteilungen häufig ohne tiefere Kenntnis des Geschäftsmodells mit einem mächtigen theoretischen Überbau in einem Silo verstecken. Value Streams oder Epics ersetzen in dieser Welt dann letztendlich nur die Projektkostenstellen (und auch nur die).
Ein Blick ins Budgetmanagement im Jahr 2022
Wie gestaltet sich das Budgetmanagement im Jahr 2022 in vielen Unternehmen? Ich versuche es in wenigen Sätzen zu umreißen. Der folgende Ablauf dürfte vertraut klingen:
Die im Vorjahr festgelegten Budgets gehen mit Beginn der Periode in die “Verwaltung” der jeweiligen Verantwortlichen. In der Praxis bedeutet dies, dass erforderliche Ausgaben getätigt und Puffer geschoben werden. Mehr Geld auszugeben als erlaubt, verbietet sich. Je weiter das Jahr fortschreitet, desto höher sind die Kosten in der Vorausschau, weil sich die Pufferbeträge stapeln. Irgendwann schlägt dann entweder das aufmerksame, zentrale Controlling zu und heimst das Budget ein oder der Budgetverantwortliche nimmt selbst die Chance war, das Geld auf den Kopf zu hauen. Und das Spiel beginnt zum Jahresende von Neuem.
Auch ohne ein Verfechter agiler Organisationsstrukturen zu sein, ist es offensichtlich, dass diese typische Ausprägung eines eingeschwungenen, klassischen Systems der Budgetverwaltung und Kontrolle seinen Zweck nur auf einer Ebene erfüllt: Die Organisation weiß – wenn sie Glück hat – auf der Jahresscheibe, wieviel Geld für ein Thema ausgegeben werden soll. Dabei ist nicht zwangsläufig sichergestellt, dass die Mittelverwendung auch wirklich unternehmerischen Nutzen entfaltet. Wenn Abweichungen vom Plan nicht zu kaschieren sind, muss der Budgetverantwortliche Mut beweisen, seine eigene Planung in Frage stellen, die Abweichung begründen und eine neue Rechtfertigung für die Planung des nächsten Jahres herleiten. Dieses Handeln erfordert Mut, weil die Budgeteinhaltung in diesen Strukturen oberstes Primat genießt.
Die Haltung muss sich ändern
“… das Menschenbild des zu wählenden Organisationsansatzes sollte den sich mit beschränkter Rationalität planvoll bemühenden Menschen zugrunde legen …” ¹
Die Gründe für die Ausprägung der beschriebenen Strukturen haben viel mit dem Menschenbild des klassischen Controllings zu tun. Der Mensch ist nur zum “Bemühen” in der Lage und es bedarf demgemäß der Etablierung von Absicherungs- und Kontrollinstanzen. Das Budget ist hier ein wichtiges Mittel. Das Zusammenspiel aus Mitarbeiter und Kontrollinstanzen ist in dieser Welt die Basis für qualitativ hochwertige Arbeit.
“Fester Bestandteil von Digitalisierungsszenarien ist die Möglichkeit, dass die Manager die von ihnen benötigten Informationen umfassend, komfortabel und aktuell selbst aus den Systemen ziehen. Vordergründig fällt damit für die Controller eine Aufgabe weg. Allerdings haben sie dann die Notwendigkeit, genauer zu analysieren, welche Informationen Manager wofür und wie verwenden. Die technische Möglichkeit eines Self Controllings heißt nicht automatisch, dass die Manager mit dieser Möglichkeit adäquat umgehen können.”²
Diese fehlenden Kompetenzen zeichnen nicht nur die Mitarbeiter aus. Auch das Management weist hier Defizite auf und bedarf der Unterstützung. Wer hört außer mir noch Winfried Taylor im Gebüsch raunen?
“Ein Budget ist für uns ein formalzielorientierter, in wertmäßigen Größen formulierter Plan, der einer Entscheidungseinheit für eine bestimmte Zeitperiode mit einem bestimmten Verbindlichkeitsgrad vorgegeben wird.”³
Dies ist die Wurzel allen Übels und manifestiert auch auf Basis der Lehre unseren Budgetbegriff auf definitorischer Ebene. Das Ergebnis dieses Verständnisses habe ich im vorangegangenen Abschnitt beschrieben.
Budgets spiegeln den unbedingten Glauben an Planbarkeit wider – kurz-, mittel- und langfristig. Dies war schon immer schwierig, ist jedoch nahezu anachronistisch in einer Welt des Umbruchs, wie wir sie gerade erleben. Das klassische Controlling geht von einer exakten Kenntnis des Systemzustands und einer analytischen Ableitung der Zukunft auf Basis bekannter Gesetzmäßigkeiten aus. Dieses Vorgehen wird komplexen Systemen in volatilen Umfeldern nicht mehr gerecht. Softwareentwickler, vor dieselbe Herausforderung gestellt, haben sich in den letzten 20 Jahren zu deren Bewältigung der Agilität zugewandt…
Die Auseinandersetzung mit den genannten Zitaten, deren Genese nicht allzu weit zurückliegt, macht deutlich, wie massiv die Finanzwelt auch heute noch durch eine Geisteshaltung geprägt wird, die dem agilen Mindset diametral entgegensteht.
Ein positives Menschenbild leben und Menschen befähigen
Um der Herausforderung Herr zu werden, bedarf es der Veränderung auf unterschiedlichen Ebenen. Ein erster Schritt ist die Entwicklung und Verankerung eines positiven Menschenbilds in der Organisation. Wie gehen wir mit dem Budgetbegriff um, wenn wir davon ausgehen, dass die Menschen das Richtige tun, sofern sie alle notwendigen Informationen und Fähigkeiten haben? Dass Menschen Verantwortung übernehmen wollen, kreativ und eigeninitiativ sind?
In einer solchen Welt benötigen die Menschen, die Budgets verantworten, keinen von außen kontrollierten “bestimmten Verbindlichkeitsgrad” gegenüber einer historischen Planung sondern Handlungsfreiheit. Budgets sind das Gegenteil unternehmerischer Handlungsfreiheit – sie spitzen in hierarchischen Logik die Handlungsfreiheit auf die allwissende Unternehmensführung zu. Und selbst die hat sie – sofern sie die Planung und ihre Einhaltung gegenüber Shareholdern rechtfertigen muss – nicht wirklich.
Wenn ich Menschen Geld mit echtem Handlungsspielraum anvertraue, dann muss ich mir sicher sein, dass sie alle erforderlichen Informationen und Kompetenzen zur Verwertungsentscheidung haben. Dies ist dann eine zweite Veränderung für Organisationen, die zuvor klassisch aufgestellt waren: es müssen Transparenz hergestellt und Menschen befähigt werden, unternehmerische Zusammenhänge zu verstehen. Und das sind idealerweise so viele Menschen wie möglich in einer Organisation!
Hierbei hilft die Einführung eines “Transparenzprinzips”: Alle Informationen, die nicht aus juristischen Gründen zurückgehalten werden müssen, sind öffentlich. Dies gilt dann insbesondere auch für die Finanzzahlen.
Dieser Schritt ist für die Organisation sehr heilsam: Der Finanzbereich muss sich öffnen und den wirtschaftlichen Istzustand ebenso wie seine Prognosen erklären. Wo ich vorher als Mitarbeiter noch nicht einmal das Recht auf eine Holschuld bezüglich relevanter Kontextinformationen hatte, entsteht nun eine Bringschuld für den Finanzbereich. Davon profitieren beide Seiten: Die breite Mitarbeiterschaft entwickelt wirtschaftliche Kompetenz, der Finanzbereich befreit sich aus dem Elfenbeinturm und stellt sich der operativen Realität.
All das braucht viel Zeit.
Sprache schafft Wirklichkeit
Sind Befähigung und der Wille zur Handlungsfreiheit einmal verankert, ist die Umsetzung letzterer nicht mehr fern.
Ein primäres Mittel hierfür in unserer Organisation war die Abschaffung des Budgetbegriffs. Teams, die Geld zur Erreichung irgendeines Mittels ausgeben (unabhängig von der fachlichen Ausprägung des Teams), verwalten keine Budgets. Sie tätigen Ausgaben.
Dies mag wie Etikettenschwindel anmuten, ist es aber nicht. Der Budgetbegriff ist durch die gefestigte fachliche Bedeutung und die jahrzehntelange, eingeübte Praxis auch für aufgeschlossene Geister vergiftet. So löst der Gedanke an “Budget” die Assoziation eines Topfes voll Gold aus, dessen Füllstand zu behüten ist. Bei der Absicht, eine andere Praxis im Umgang mit “Budgets” einzuführen, einer Praxis, die Handlungsfreiheit verspricht, steht dieses Bild im Weg, da es eine Selbstbeschränkung der Handelnden im Umgang mit dem Geld zur Folge hat. Der Rückfall in alte Muster ist vorprogrammiert.
Planung wird effizient und nutzbringend
Wie gestaltet sich der Umgang mit den Ausgaben in der Praxis? Im Nahfeld geben die Teams an, welche Ausgaben sie kennen, alles weitere wird auf Basis der Vergangenheitswerte extrapoliert. Letzterer Schritt bleibt wichtig, um einen mittel- bis langfristigen Planungsrahmen zu haben, der es erlaubt, Chancen und Risiken zu erkennen.
Wird weniger Geld ausgegeben als erwartet, erfolgt keine Umverteilung in die Zukunft. Wir blicken nicht zurück.
Übersteigen die tatsächlich anfallenden Kosten die formulierten Erwartungen, so ist dies bis zu einem Schwellwert kein Problem. Wird dieser Schwellwert überschritten, so gibt es ein interdisziplinäres Gremium, dem derjenige, der die Ausgaben tätigen möchte, den Sinn und Zweck derselben erklärt.
Damit das System funktionieren kann, ist hier die Herstellung einer psychologischen Sicherheit entscheidend: Die Mitarbeitenden müssen das Vertrauen haben, dass sinnvolle Ansätze und gute Ideen auch honoriert werden und die Ausgabenfreigabe nicht von vornherein absurd erscheint.
Durch die beschriebenen Vorarbeiten, insbesondere der Transparenz, ist das Risiko, dass hier wirre Überlegungen das Gremium erreichen, tatsächlich gering. Die Mitarbeitenden sind über die wirtschaftliche Gesamtsituation, die ggf. einschränkend wirken könnte, vollumfänglich – bis hin zur Liquidität – informiert. Und die besseren Fachspezialisten sind sie allemal.
Die Ausgabenplanung erfolgt bei uns auf diese Weise monatlich rollierend, das Nahfeld sind drei Monate. Alles weitere wird langfristig extrapoliert, womöglich angereichert um Spezialwissen des Teams bezüglich notwendiger Ausgaben in fernerer Zukunft.
Der Nutzen ist offensichtlich:
- Budgetberge in der Fortschreibung können nicht mehr entstehen.
- Die Planung im Nahfeld ist so exakt, wie sie nur sein kann – ohne schwarze Kassen und Pufferpositionen.
- Der Planungsprozess als solcher ist simpel.
- Führt man die Extrapolation bis zu einer 15-monatigen Zeitspanne fort, wird der Prozess im Herbst zur Herstellung des Jahrebudgets für das Folgejahr für die externen Stakeholder zur Kleinigkeit.
- Zukünftige, strategische Ansätze, die eine Abweichung von der Ausgabenextrapolation nahelegen, können stets eingearbeitet werden.
Zuletzt das Allerwichtigste: Obwohl eine gute Planung so hergestellt werden kann (diese These ist nicht nur Theorie!), haben die Menschen, die Geld ausgeben, unternehmerische Handlungsfreiheit!
Hinweise:
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[1] Horvarth, Gleich, Seiter: Controlling, 15. Auflage 2015, S. 35
[2] Schäfer, Weber: Persönliche Überlebensstrategien für Controller im Zeichen der Digitalisierung, aus: Sonderheft Controlling 09/2017, S.57
[3] Horvarth, Gleich, Seiter: Controlling, 15. Auflage 2015, S.119
Dr. Stefan Barth hat zwei weitere Beiträge im t2informatik Blog veröffentlicht:
Dr. Stefan Barth
Dr. Stefan Barth ist COO der Qvest Digital AG und treibt die agile Transformation der Organisation voran. Zuvor war er als Berater, Start-Up Mitgründer, Mitglied der Geschäftsleitung eines TecDAX-Unternehmens sowie Einzelunternehmer tätig. Zunächst aus der Welt der klassischen Führung kommend, veränderte er seine Haltung und erarbeitete sich über verschiedenste Mandate Erfahrungen in agilen Transformationsprozessen und der Steuerung von agilen Organisationen. Sein Know-how vermittelt er in Beratungsprojekten, Vorträgen und Artikeln.