Scrum – The Rules of the Game

Gastbeitrag von | 29.04.2019

Im Scrum Guide existiert eine Formulierung, die den wenigsten Menschen bekannt ist. Sie steht auf dem Deckblatt und lautet: „The Rules of the Game“.

Offensichtlich sind Ken Schwaber und Jeff Sutherland der Ansicht, Scrum sei nichts anderes als ein Spiel. Und tatsächlich können wir sehr viel von der Wirkungsweise des agilen Rahmenwerks besser verstehen, wenn wir uns einmal auf diese Perspektive einlassen und alle Formulierungen im Scrum Guide als Spielregel (oder Spielmechanik) verstehen. Aber was ist die Essenz von Spielregeln?

Ohne Spielregel keine Bedeutung

Als Kind spielte ich häufig in zubetonierten Hinterhöfen Fußball, denn gute Fußballplätze mit echtem Rasen waren in den 80er-Jahren – zumindest in der Gegend, in der ich aufwuchs – eine Rarität. Das Spielfeld wurde nicht durch weiße Linien, sondern durch Hauswände markiert, sodass es unmöglich war, eine „Ecke“ zu schießen. So spielten wir damals nach der sehr beliebten Regel: Drei Ecken = ein Elfer. Wenn der Ball also von einer Mannschaft dreimal ins eigene Toraus gespielt wurde, bekam die gegnerische Mannschaft einen Elfmeter.

Das Tor war häufig mit Kreide oder mit Hilfe von Kalksandstein an eine Hauswand gemalt und wenn man den Ball am Torwart vorbei an die Hauswand schoss, zählte das als Tor. Wir haben keine 90 Minuten gespielt, sondern „bis eine Mannschaft zehn Tore geschossen hat.“ Das konnte mal 10 Minuten oder auch zweieinhalb Stunden dauern. Und anstelle von elf Spielern pro Mannschaft waren wir häufig nur fünf, drei oder auch mal nur zwei Spieler.

Falls wir doch einmal auf einer Wiese gespielt haben und das Tor mit abgelegten Jacken markiert war, gab es bei höheren Torschüssen häufig Diskussionen, ob das nun ein Tor war oder nicht. Eine Querlatte gab es ja nicht. Auf diesen Wiesen gab es meistens auch kein Seitenaus, weil die Wiese genug Spielfläche bot, einfach weiterzuspielen. Das führte mitunter auch zu kuriosen Situationen, so dass sich das Spiel auch einmal hinter eines der Tore verlagern konnte und es dann „irgendwie Ecke“ geben musste, von wo auch immer man diese dann ausführen musste. Aber diese virtuellen Linien waren nicht sonderlich verbindlich, sondern eher allgemeine Richtlinien. Mit all unseren Behelfsmaßnahmen haben wir natürlich stets versucht, die „echten Fußballregeln“ so gut als möglich abzubilden, was zugegebenermaßen mal mehr, mal weniger gut funktionierte. Aber natürlich durfte man den Ball niemals mit der Hand berühren und keinen anderen Spieler schubsen oder Beinchen stellen. (Rote und gelbe Karten besaßen wir jedoch nicht.)

Spielregeln sind das Herzstück eines jeden Spiels. Sie definieren, wie ein Spiel funktioniert und sie legen die Bedeutung unserer Aktionen fest. „Den Ball über die weiße Linie des Tores zu bewegen“ bedeutet „Tor“. „Den Ball (absichtlich) mit der Hand berühren“ bedeutet „Handspiel“. „Mehr Tore als der Gegner innerhalb von 90 Minuten zu schießen“ bedeutet „Sieg“. „Den Ball mit dem linken, statt mit dem rechten Fuß zu schießen“ bedeutet hingegen gar nichts, denn es gibt hierzu keine Regel. Beziehungsweise: Die Fußballregeln erlauben, dass man beide Füße benutzen darf; also ist es gleich, welchen man nutzt. (Genauer gesagt gibt es in den Fußballregeln kurioserweise gar keine Regel, die besagt, dass man beim Fußballspiel hauptsächlich die Füße benutzen muss. Es gibt lediglich eine Regel für das „Handspiel“.)

Verändern wir die Regeln von Spielen, verändert sich die Bedeutung unserer Aktionen während des Spiels und auch das Spiel insgesamt. Wenn wir in einem Innenhof Fußball spielen und die Regel Drei Ecken = ein Elfer verwenden, verändert sich die Bedeutung davon, was es heißt, ins Toraus zu spielen. Ohne eine Seitenaus-Linie können wir uns so weit wir wollen von den anderen Spielern (und dem gegnerischen Tor) entfernen – es bedeutet nichts. Ohne eine Spielregel existiert die Bedeutung schlichtweg nicht. Schießen Sie einen Ball über eine weiße Linie, ohne dass Sie gerade mit anderen Fußball spielen, bedeutet es: nichts. Spielen Sie hingegen gerade Fußball (vielleicht sogar im Endspiel der FIFA-Weltmeisterschaft), bedeutet es eine ganze Menge.

Spielregeln in Unternehmen

Wenn Sie in einem Unternehmen arbeiten, existieren dort ebenfalls jede Menge Spielregeln und -mechaniken. Damit meine ich nicht die bekannten Aushänge und Pamphlete á la „Unsere Spielregeln“, sondern etwas ganz anderes: Die Struktur Ihres Unternehmens (die über ein Organigramm sichtbar gemacht werden kann) ist eine Spielregel. Die Definition von Hierarchien und welche Macht mit Rollen und Positionen einhergeht, ist eine Spielregel. Und selbst die Art und Weise, wie Meetings abgehalten werden, ist eine Spielregel. Wen Sie „ins CC nehmen“ (müssen), wenn Sie eine E-Mail schreiben, ist eine Spielregel. Manche dieser Spielregeln sind explizit formuliert in Form von Anweisungen, Prozessen und Strukturen, auf die man sich geeinigt hat. Andere sind informell und unausgesprochen.

Doch unabhängig davon, ob sie formal oder informal sind, definieren all diese Spielregeln, welche Bedeutung das, was Sie tagtäglich auf der Arbeit tun, besitzt. Wenn Sie jemanden in einer E-Mail nicht ins CC nehmen, obwohl es Ihre Unternehmensprozesse so vorsehen, wird das höchstwahrscheinlich als Regelverstoß gewertet. (Diesen Fall werden Sie sicherlich schon in der einen oder anderen Form miterlebt oder gar am eigenen Leib erfahren haben.) Aber daneben gibt es viele andere Handlungen oder Aktionen, die Sie auf der Arbeit zwar „irgendwie ausführen“ können, die aber innerhalb Ihres Unternehmens keinerlei Bedeutung haben: Weil es keine Spielregel dazu gibt.

Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten in einem Service Center und bearbeiten Kundenanliegen. Wenn Ihr Unternehmen zwar Kennzahlen für die Quantität Ihrer Arbeit festgelegt hat, aber nicht für die Qualität, dann können Sie zwar sehr kundenorientiert arbeiten und guten Service liefern, aber für die Bewertung Ihrer Arbeit bedeutet es nichts. Falls Sie jedoch zu langsam arbeiten, bedeutet das eine ganze Menge. Höchstwahrscheinlich wird Ihr Chef Sie fragen, warum Sie nicht mehr schaffen. Selbst dann, wenn Sie hohe Ansprüche an sich selbst und Ihre Arbeit haben und diese Wertvorstellung durch guten Kundenservice und gewissenhafte Arbeit ausdrücken wollen, können Sie das zwar grundsätzlich tun, aber auf der Ebene Ihres Unternehmens hat es keinerlei Bedeutung, wenn Ihr Unternehmen keine adäquaten Spielregeln dafür hat. Sie können diesen „Spielzug“ einfach nicht spielen, weil es keine Regel dazu gibt. Genauso gut können Sie beim Fußball ein Tor schießen und den Ball mit mehr als 100 km/h über die Linie befördern. Das ist dann zwar ein (besonders schönes) Tor, aber die Geschwindigkeit des Balls ist vollkommen irrelevant.

Scrum ist ein Spiel

Wenn Sie Scrum einführen, bringen Sie ein neues Regelsystem in Ihr Unternehmen hinein. Der Scrum Guide ist voll von Formulierungen und Definitionen, die zweierlei Veränderungen bewirken:

Zum einen erzeugen die Spielregeln von Scrum für bestimmte Handlungen und Aktionen eine Bedeutung, falls diese zuvor keine besaßen. Vielleicht haben Sie bereits einen hohen Qualitätsanspruch an Ihre Arbeit gehabt, ohne dass es zuvor in Ihrem Unternehmen eine relevante Bedeutung hatte. Mit den Spielregeln zur Definition of Done implementiert der Scrum Guide eine Bedeutung in Ihrer täglichen Arbeit hinsichtlich hoher Qualität. (Dazu gehören etwa die Spielregeln, dass das Scrum Team selbst darüber entscheidet, welche Qualitätskriterien es auf seine Arbeit anwenden möchte oder dass die „Definition of Done“ in jeder Retrospektive angepasst werden kann, wenn die Qualität der letzten Auslieferung nicht gut genug war.)

Zum anderen – und das ist eine der großen Stärken von Scrum – überschreibt der Scrum Guide alle anderen bereits existierenden Spielregeln eines Unternehmens. Stehen der Scrum Guide und seine Spielregeln mit vorhandenen Prozessen, Abläufen oder Strukturen in Konflikt, lautet die Aufgabe nicht, Scrum anzupassen, sondern die Spielregeln der Organisation. Und da dies naturgemäß eine sehr schwierige Aufgabe ist, bringt der Scrum Guide gleich eine neue Rolle mit, damit sich alle an die Spielregeln halten – den Scrum Master: „The Scrum Master is responsible for promoting and supporting Scrum as defined in the Scrum Guide.“ (Scrum Guide, Seite 7)

Die Spielregeln von Scrum machen nichts anderes als die dahinterstehenden Werte (Focus, Respect, Openness, Commitment und Courage) zum Leben zu erwecken. Die verwendeten Mechaniken aller Spielregeln des Scrum Guides sind Transparency, Inspection & Adaption.

Das Ziel des Spiels ist: „to build trust for everyone.“ (Scrum Guide, Seite 5)

 

Hinweise:

Interessieren Sie sich für weitere Tipps aus der Praxis? Testen Sie unseren wöchentlichen Newsletter mit interessanten Beiträgen, Downloads, Empfehlungen und aktuellem Wissen.

Lars Richter
Lars Richter

Lars Richter glaub an eine Arbeitswelt, in der Menschen darauf brennen, am Montag endlich wieder zur Arbeit gehen zu dürfen. Deshalb inspiriert er Menschen, Unternehmen und Organisationen, Arbeitsumgebungen so zu gestalten, dass sich Motivation und Engagement entfalten können. Motivation entsteht immer dann, wenn unser menschliches Bedürfnis nach Autonomie, Flow und Gemeinschaft erfüllt ist und das, was wir tun, Bedeutung hat. Spiele verwirklichen diese Prinzipien in Reinform – aber Autonomie, Flow, Gemeinschaft und Bedeutung sind auf jeden beliebigen Kontext übertragbar – auch auf die Arbeit. Deshalb nutzt Lars Richter Spiele als Folie, um diese Prinzipien und ihre Wirkungsweise zu veranschaulichen und hilft seinen Kunden so, eine Blaupause zu entwickeln, die diese auf ihre Organisation übertragen können, um ihr dadurch Bedeutung zu verleihen. Als Motivationsdesigner, zertifizierter Scrum Master und Product Owner (PSM I & PSPO I), Trainer & Berater erarbeitet Herr Richter gemeinsam mit seinen Kunden und ihren Mitarbeitern in BarCamps, Workshops, Trainings, MOOCs oder Vorträgen, um so Unternehmen zu gestalten, dass sich Motivation voll entfalten kann.